Schrecklich schön und weit und wild : Warum wir reisen und was wir dabei denken

Politycki, Matthias, 2017
Verfügbar Ja (1) Titel ist in dieser Bibliothek verfügbar
Exemplare gesamt 1
Exemplare verliehen 0
Medienart Buch
ISBN 978-3-455-50426-2
Verfasser Politycki, Matthias Wikipedia
Systematik Lit/ - Belletristik nach Autoren A-Z
Schlagworte Philosophie, Reise, Reisen, Lit/Poli 001
Verlag Hoffmann und Campe
Ort Hamburg
Jahr 2017
Umfang 347 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache Deutsch
Verfasserangabe Matthias Politycki
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Ingrid Kainzner;
Eine persönliche Phänomenologie des Reisens, präsentiert von einem Autor, für den das Reisen praktische Philosophie bedeutet. (EL)
Matthias Politycki, Romancier und Lyriker, hält in dem vorliegenden Band eine nachdenkliche, manchmal wehmütige Rückschau auf seine vielen Reisen. Gleich vorweg gesagt: Es handelt sich nicht um klassische Reiseliteratur, sondern eher um eine Phänomenologie des Reisens, das für den Autor praktische Philosophie bedeutet. Was nicht heißt, dass dieses "schrecklich schöne" Buch nicht auch von gefährlichen und amüsanten Erlebnissen und Begegnungen berichtet. Zum Beispiel von einer skurrilen Beobachtung auf dem Friedhof Santa Ifigenia in Santiago de Cuba: "Nach wenigen Jahren der Verwesung werden die Toten in ihrer Totenruhe gestört - die Grabplatten weggehoben, die Särge aufgehackt, die Knochen gereinigt und in kleine Knochenkästen umgebettet. Die Angehörigen hocken um die Überreste ihrer Vorfahren, putzen sie gemeinsam mit den Totengräbern, reichen mitunter einen Knochen herum, stecken diskret einen Goldzahn ein, erzählen sich. Einmal fragte mich eine mir unbekannte Frau nebenbei ganz nonchalant, ob ich eine chica bräuchte. Nein? Kein Problem, schon putzte sie weiter."
Am meisten beeindruckt aber, wie Politycki an die im Untertitel gestellte Frage "Warum wir reisen und was wir dabei denken" herangeht und sie aus den verschiedensten Blickwinkeln zu beantworten versucht. Er scheut sich nicht, eigene bzw. europäische Vorurteile zu ergründen und Klischeevorstellungen über "die Fremden" zu widerlegen. Der vor allem von wohlmeinenden Deutschen oft an den Tag gelegte Versuch, das Fremde zu verstehen und mit westlichen Vorstellungen in Einklang zu bringen, stößt bei den meisten Menschen in Asien, Afrika oder Südamerika auf keine große Gegenliebe und wird zuweilen mit Verachtung gestraft - "weil wir im entscheidenden Moment kein Rückgrat zeigen und nicht für unsere Sache eintreten, die Weltanschauung einer freien Welt."
Was mir außerdem an dem Buch sehr gut gefallen hat, ist die Offenheit des Autors und das Fehlen jeglicher Arroganz. Hier wird nicht die eine wahre Art des Reisens propagiert und über Pauschaltouristen die Nase gerümpft, es geht auch nicht nur um "Erkenntnisse" oder gar um den "Weg zu sich selbst", sondern auch um die in den Reiseführern beschriebenen Sehenswürdigkeiten. Dass es dann manchmal ganz andere, oft völlig unspektakuläre Erlebnisse sind, die uns in Erinnerung bleiben, ist wieder eine andere Sache. Auf jeden Fall ist das Buch für passionierte Reisende, die auch gern in die Tiefe gehen, eine große Bereicherung.

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Quelle: Pool Feuilleton;
Reisen ist ein Teil des Konsums, weshalb sich in unserer Gesellschaft niemand daraus davonschleichen kann. Wer nicht selbst reist, zu dem kommen andere, um zu sehen, wie jemand Sesshafter ausschaut.
Matthias Politiycki reist, seit er auf der Welt ist, um die Welt. Als Kind ist er hinten in einem Käfer gesessen und hat noch nicht gewusst, dass es reisen heißt, wenn der Vater wie wild durch die Kurven fährt. "Wer reist, reist ein Leben lang." (103) Anlässlich der großen Migrationswelle nach Europa im Jahre 2015 stellt der Autor freilich das Reisen auf den Prüfstand und kramt alle Erlebnisse und Faustregeln aus, um der simplen Frage nachzugehen, was Reisen von Flucht unterscheidet.
Beim Reisen geht es um die Erfüllung von Wünschen durch Konsum, bei der Flucht um Erfüllung des Überlebenswunsches. Allein durch diese Gegenüberstellung tun sich plötzlich neue Fragen auf: Warum treffe ich auf Reisen meist auf Arbeitslose und Tagelöhner, wenn ich den Touristenstrom verlasse, und wohin soll ich reisen, wenn es kaum mehr ein Land gibt, aus dem man unbeschadet wieder herauskommt? Und ist das Reisen nicht eine melancholische Angelegenheit, wenn man Jemen oder Palmyra in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr aufsuchen kann?
Wichtig ist vor allem, dass man zu Hause etwas erzählt. Aus diesem Grund gibt es in diesem Essayband raffinierte Listen, etwa die Flops und Tops, die jeder persönlich zusammenstellen kann. Flops sind etwa Davos, Sinai oder die Schweinebucht, als Tops gelten Winter in St. Petersburg, Fes, Frauenchiemsee oder Wien als 1., 7. und 8. Bezirk.
Eine Liste der schönsten Frauen soll den doofen Bargesprächen Einhalt gebieten, wo angesoffene Männer über Frauen herziehen wie über Denkmale. Die ukrainischen Frauen sind die durchgestyltesten der Welt, in Korea wollen die Frauen schön sein, in Brasilien unterwirft sich die Schönheit dem Karneval.
Einen guten Tipp zum Angeben hat der professionelle Reiseschriftsteller ebenfalls auf Lager, immer ein Ereignis der zweiten Wahl als besonders edel hervorheben, es suggeriert Kompetenz, wenn man etwas als schön empfindet, was nicht im Reiseführer steht.
Im Laufe eines Reiselebens kommen nicht nur unendlich viele Fotos zusammen, sondern auch Grenzfälle, wo Reisen sinnlos wird. Ein Müllgebirge etwa in Kalkutta ist Sperrgebiet, das wie eine militärische Zone abgesperrt wird. Wenn der Körper erkrankt, kann es leicht lebensgefährlich werden. Der Autor berichtet von einer Knieverletzung, die ihm beinahe Amputation und Tod eingebracht hätte.
Natürlich gibt es auch an allen Ecken und Enden Absurdistan, wenn den Touristen etwas vorgegaukelt wird, was die Einheimischen schon bei der Darbietung selbst nicht für möglich halten. Und die oberste Faustregel spricht von der Sehnsucht, die dann entsteht, wenn man nicht über die Grenze darf. Nord- und Südkorea, ein Blick hinter Moldawien, eine Sicht-verschlossene Ebene in der Mongolei: Alles wird schön, wenn man nicht hindarf!
Matthias Politycki bietet durchaus gedankliche Tiefgänge für das Reisen an, wenn es einem an der glänzenden Oberfläche der Selfies einmal zu glatt werden sollte.
Helmuth Schönauer

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